Digitale Transformation in der Unternehmenssteuerung – wird immer noch zu analog gedacht?
16.09.2019
Autor: Andreas Seufert
Die zunehmende Digitalisierung aller Lebensbereiche führt nicht nur zu einer massiven Ausweitung digital verfügbarer Daten, sie bietet auch völlig neue Möglichkeiten der Prozess-, Produkt- und Geschäftsmodellgestaltung – mit gravierenden Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen.
Die neue Anatomie der Entscheidungsstützung
Forschungsergebnisse zeigen bereits seit längerem, dass die Fähigkeit Informationen zu erschließen und betriebswirtschaftlich zu nutzen, zu dem zentralen Wettbewerbsfaktor geworden sind. Information gilt als die strategische Ressource des 21. Jahrhunderts.*
Ziel ist es nicht mehr nur Information als Grundlage für aktuelle Entscheidungen im angestammten Geschäftsumfeld zu nutzen. Informationen sind vielmehr selbst Bestandteil von Innovationen, welche Prozesse, Produkte und Geschäftsmodelle grundlegend verändern.
Digitale Transformation – Hohe Betroffenheit trifft auf geringen Vorbereitungsgrad
Aktuelle Studienergebnisse zeigen, dass das Markt- und Wettbewerbsumfeld von den Unternehmen durchaus als herausfordernd beschrieben wird. Sowohl die Komplexität, die Wettbewerbsintensität aber auch die Veränderungsgeschwindigkeit/Dynamik werden als hoch/sehr hoch eingeschätzt.**
Zusätzlich zu diesen allgemeinen Rahmenbedingungen sehen 72% der Teilnehmer ihre Branche stark von der digitalen Transformation betroffen. Allerdings schätzen nur rund 27 % ihr Unternehmen als sehr gut/gut vorbereitet.
Man könnte als sagen: Die Digitale Transformation wird zwar erwartet – die Unternehmen schätzen sich jedoch vielfach als nicht angemessen darauf vorbereitet ein.
Digital Business Verständnis noch in der Frühphase
Neben der teilweise noch ausbaufähigen Methodenkompetenz im Umgang mit Daten und Analytik zur Umsetzung der eigenen Digitalisierungsstrategie scheinen viele Unternehmen die Wucht der digitalen Veränderung immer noch massiv zu unterschätzen.
Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen, dass –selbst im Kontext der digitalen Transformation– ofensichtlich immer noch sehr analog gedacht wird.***
Unter Digitaler Transformation wird vor allem die Digitalisierung bestehender Geschäftsprozesse verstanden, gefolgt von Entwicklung neuer Geschäftsmodelle für bestehende physische Produkte.
Die potenzielle Konkurrenz durch vollständig digitale Unternehmen wird hingegen als nicht so dramatisch eingeschätzt.
Forschungsergebnisse zeigen allerdings auch, dass die massive disruptive Wirkung der Digitalisierung gerade dadurch entsteht, dass neben Geschäftsprozessen insbesondere Produkte/Services in Verbindung mit Plattform-Geschäftsmodellen digitalisiert werden.
Die potenzielle Tragweite bzw. disruptive Wirkung der digitalen Transformation wird von vielen Unternehmen allerdings offensichtlich immer noch massiv unterschätzt.
Diese Vernachlässigung der Wirkung von Digitalisierung auf Produkt/Serviceebene i.V.m. Plattformansätzen kann dramatische Folgen haben.
Möglicherweise werden Kundenbedürfnisse zukünftig nicht mehr durch ein anderes physisches Produkt, sondern durch einen digitalen Service ersetzt. Beispielsweise Navigations-App statt physischer Landkarte, Gesichtserkennung zur Türöffnung statt physischem Schlüssel oder Mobilitätsservice statt eigenem Auto.
Eine reine Konzentration auf bestehende physische Produkte scheint daher dem Veränderungspotenzial der digitalen Transformation nicht gerecht zu werden.
Drastisch formuliert könnte man sagen: Es besteht die Gefahr, dass Unternehmen am Ende optimierte, digitale Geschäftsprozesse besitzen, für ein physisches Produkt, das keiner mehr haben möchte.
Hinzu kommt, dass digitale Produkte/Services im Vergleich zu physischen Produkten erhebliches betriebswirtschaftliches Potenzial besitzen. An dieser Stelle seien nur einige beispielhaft skizziert:
- Digitale Produkte können zeitlich schneller verfügbar gemacht werden und weisen geringere Transaktionskosten auf (z.B. sinken die Grenzkosten des Vertriebs bei bestehender digitaler Infrastruktur dramatisch).
- Digitale Produkte bieten umfangreiche Vorteile bei der Produktgestaltung (z.B. in der Preisgestaltung, durch Veränderung einzelner Produkteigenschaften, durch Zuschnitt auf Zielgruppen oder durch Gestaltung des Nutzungsumfanges).
- Eigenschaften digitaler Produkte können problemlos auch nach dem Kauf verändert werden.
- Der Käufer digitaler Produkte erhält, technisch gesehen, lediglich Kopien (der Verkäufer ist nach dem Verkauf immer noch im Besitz der Information). Teilweise gehen die digitalen Produkte nicht einmal mehr in den Besitz des Nutzers über, sondern werden – wie z.B. bei Streaming Diensten – lediglich zur Nutzung zur Verfügung gestellt.
- Digitale Produkte erlauben eine Vermessung der tatsächlichen Nutzung des Produktes durch den Kunden, ebenso wie ein Monitoring der direkten Reaktion auf Veränderungen des Produktes.
- Der Nutzungszweck digitaler Produkte ist nicht begrenzt. Informationen, die an einer Stelle anfallen (z.B. über die Nutzung eines digitalen Produktes) können beliebig mit anderen Informationen (z.B. sozio-demografischen Daten) kombiniert und weiterverwendet werden, um daraus neue Informationen beispielsweise für neue Produkte oder Dienstleistungen abzuleiten.
Trotz eines beobachtbaren „Unwohlseins“ im Kontext der digitalen Transformation ist das tatsächliche Ausmaß der Veränderungen offensichtlich vielfach noch nicht durchgedrungen.
Dies scheint damit zusammenzuhängen, dass es Wissensdefizite darüber gibt, wie Information als strategische Ressource genutzt werden kann.
Reifegrade der Digitalisierungsinitiativen
Auch wenn viele Unternehmen sich im Umfeld der Digitalen Ökonomie noch mit eher grundsätzlichen Problemen auseinandersetzen, beginnen sie zunehmend die fundamentalen Auswirkungen auf die Durchführung des Geschäftsbetriebs sowie auf die generierten Einnahmen eines Unternehmens zu sehen.
Daten i.V.m. der entsprechenden Analytik können dabei grundsätzlich für unterschiedliche Ziele eingesetzt werden. Da die Komplexität hinsichtlich Betriebswirtschaft auf der einen Seite und Daten/Analytik auf der anderen Seite zunimmt, können dieses Ansätze auch als Reifegrade verstanden werden (Stufen in Anlehnung an Bitkom).
- Optimize: Die bessere Verknüpfung und Auswertung bereits existierender Datenbestände kann für die Optimierung bestehender Geschäftsprozesse und -modelle einen sehr großen Mehrwert liefern. Für viele Unternehmen bietet sich dieser Ansatz daher als Einstieg an. Ziel ist es, die unternehmenseigenen Datenbestände besser zu nutzen. Sinnvoll ist es oft auch, die zugrundeliegende IT-Infrastruktur zu optimieren bzw. zu renovieren, um das Speichern, Verarbeiten, Analysieren und Nutzbarmachen immer größerer Datenmengen bewerkstelligen zu können.
- Monetize: In vielen Unternehmen stellen bestehende Datenbestände einen noch nicht gehobenen Schatz dar. Unter Beachtung bestehender rechtlicher Rahmenbedingungen lassen sich, mit bereits existierenden Daten neue Geschäftsmodelle oder (digitale) Produkte kreieren, die direkt an interessierte Unternehmen oder Supply-Chain Partner verkauft werden können. Beispielsweise vermarkten Einzelhandelsunternehmen anonymisierte Transaktionsdaten an ihre Lieferanten aus dem Umfeld der Konsumgüter- und Lifestyle-Industrie die selbst keinen direkten Endkundenzugang haben.
- Leverage: Zusätzlich lassen sich bestehende Geschäftsmodelle und Dienstleistungen durch zusätzliche, neue Daten und fortschrittliche Analytik verbessern. Beispielsweise lassen sich Muster in den Kundendaten erkennen, um potentielle Kündigungen zu prognostizieren und entsprechend frühzeitig gegensteuern zu können.
- Disrupt: Der anspruchsvollste Digitalisierungsansatz zielt darauf ab, auf Basis der gezielten Erschließung, Vernetzung und Analyse neuer digitaler Datenbestände durch fortschrittliche Analytik neue (digitale) Produkte/Services zu erschaffen.
Die Forschung zeigt auch hier interessante Ergebnisse:
Den Spitzenplatz hinsichtlich der Ausrichtung der Digitalisierungsinitiativen der befragten Unternehmen belegt dabei der Ansatz Optimize.
- 72 % befragten Unternehmen sehen das Erschließen und Vernetzen bestehender Datenquellen als wichtig/sehr wichtig an.
- Für ebenfalls 72 % ist die analytische Durchdringung bestehender Datenquellen sehr wichtig.
- 69% messen der schnelleren Zurverfügungstellung bestehender Daten hohe/sehr hohe Bedeutung bei.
- Eine höhere Granularität/Detaillierung der Daten halten 50% für wichtig/sehr wichtig.
Platz 2 belegt der Ansatz Leverage.
- 62 % der Unternehmen halten die Nutzung neuer analytischer Verfahren für wichtig/sehr wichtig.
- 58 % erachten das Erschließen neuer Datenquellen für wichtig/sehr wichtig
- Ebenfalls 58% sehen die Entwicklung neuer analytischer Verfahren als wichtig/sehr wichtig an.
Die Monetarisierung bestehender Rohdaten, ggf. angereichert durch Analytik steht dagegen nicht im Fokus der Digitalisierungsinitiativen.
- 11% (Rohdaten) halten dies für wichtig/sehr wichtig.
- 15 % (Rohdaten angereichert) schätzen dies als wichtig/sehr wichtig ein.
Grund hierfür könnte ein Wissensdefizit sein, da die Unternehmen die Wirkungen der Digitalisierung primär auf ihre aktuellen Produkte und Geschäftsmodelle projizieren.
Dieses Wissensdefizit könnte -wie eingangs skizziert- dramatische Folgen haben. Die vielfach beschworene disruptive Wirkung der digitalen Transformation setzt -wie an den Geschäftsmodellen von Amazon, Alphabet, Alibaba, Tencent gut sichtbar- genau an dieser Stelle an.
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* (Kiron D., Shockley R.: Creating business value with analytics. In: Sloan Management Review, 53 (1), 2011 und Chen H., Chiang R., Storey V.: Business intelligence and analytics: from big data to big impact. In: MIS Quarterly, 36 (4), 2012.)
** (Seufert, A./ Engelbergs, J./ von Daacke, M./ Treitz R: Digitale Transformation und Controlling – Erkenntnisse aus der empirischen Forschung des ICV. In: Controllermagazin (Jan/Feb), 2019).
*** (Seufert, A./ Engelbergs, J./ von Daacke, M./ Treitz R: Digitale Transformation und Controlling – Erkenntnisse aus der empirischen Forschung des ICV. In: Controllermagazin (Jan/Feb), 2019.)