KI für die Unternehmenssteuerung – Lernen von den digitalen Champions

29.07.2019

Autor: Andreas Seufert

Angesichts der Geschwindigkeit und der Wucht der – durch die Digitalisierung hervorgerufenen –Veränderungen sollte man eigentlich meinen, dass die Unternehmen das Experimentierstadium in Sachen digitaler Transformation längst hinter sich gelassen und ihre Strategien angepasst haben und mit Vollgas in Sachen datengetriebener Produkte und neuer Geschäftsmodelle unterwegs sind.

Und diese Neuausrichtung selbstverständlich entsprechend steuern …

Arbeiten wir mit Methoden von gestern, um die Probleme von morgen zu lösen?

Zahlreiche Veröffentlichungen verweisen allerdings immer wieder darauf, dass die Steuerungs- und KPI-Systeme in vielen Unternehmen – nennen wir es mal – Optimierungspotentiale bergen. Die Liste der Empfehlungen ist daher auch durchaus bekannt …

  • „Bitte keine Kennzahlenfriedhöfe“.
  • „Bitte messen Sie nicht nur finanzielle Größen“ (der berühmte Blick in den Rückspiegel).
  • „Bitte messen Sie die richtigen Dinge“ (passend zum Geschäftsmodel).
  • „Bitte messen Sie die Dinge richtig“ (achten Sie auf Validität und Reliabilität).

Umso erstaunlicher ist es, dass der Status Quo in vielen Unternehmen nach wie vor ein erhebliches Beharrungsvermögen aufweist. Studien aus dem deutschsprachigen Raum sprechen da eine relativ eindeutige Sprache, beispielsweise (Horvath & Partner/ KPI-Studie 2013 ):

  • Immer noch werden „zu viele finanzielle Informationen und deutlich zu wenig externe Informationen berichtet“.
  • „KPI- und Kennzahlenmodelle weisen in der Praxis Defizite auf, die eine durchgängige und konsistente Steuerung erschweren.“
  • „KPIs sind vielfach eher willkürlich ausgewählt – gleichzeitig mangelt es den Kennzahlensystemen an Zusammenhängen zwischen den einzelnen Indikatoren.“
  • „Eine erfolgreiche Steuerung erfordert Kennzahlensysteme, die das Geschäftsmodell des Unternehmens abbilden. Es zeigt sich, dass dies nur bedingt der Fall ist und die Steuerung damit die individuelle ‚DNA‘ der Unternehmen nicht abbilden.“

Auch Kollegen des MIT (Schrage/ Kiron) kommen für die USA zu ernüchternden Ergebnissen:

  • „… roughly three-quarters of respondents acknowledge a disconnect between functional and strategic metrics. They’re not aligned.“
  • „They’ve got more data and better analytics than ever, yet their organizations don’t clearly align functional operations with strategic aspirations. This survey offers a clear warning to KPI underachievers.“

Laut einer internationalen Studie des Marktforschungsunternehmens Gartner besitzt sogar mehr als die Hälfte der CEO’s und Topmanager überhaupt keine Metriken, um den digitalen Wandel zielgerichtet steuern zu können.

Angesichts dieser Befunde kann man sich schon die Frage stellen:

  • Steuern wir (den digitalen Wandel) eigentlich richtig?
  • Überall wird von den neuen Möglichkeiten durch Artificial Intelligence und Machine Learning (AI/ ML) gesprochen – was ist eigentlich mit der Unternehmenssteuerung?

Was ist eigentlich “Key“ an Key Performance Indicators – KPI Disruption durch AI/ML?

Die technologischen Fortschritte der letzten Jahre sind atemberaubend. Dies gilt nicht nur für die Gewinnung und Erschließung völlig neuer Datenquellen, sondern auch für die Möglichkeiten, riesige Datenmengen unverdichtet zu speichern und diese auf regelmäßige Muster und Abhängigkeiten hin zu analysieren.

Die Anwendungsbereiche gehen jedoch weit darüber hinaus, AI/ML lediglich für Prognosen – z.B. Sales Forecast – auf Basis des bestehenden Produkt-/Kundenportfolios im Rahmen des aktuellen Geschäftsmodells zu nutzen.

„in fact, the most sophisticated businesses – those that appreciate and understand digital transformation and accountability – take a radically more dynamic KPI view”
(Schrage/ Kion: Understand the Real Keys to Effective KPIs)

Forschungsergebnisse des MIT zeigen beispielsweise wie Top Performer AI/ML für die Unternehmenssteuerung nutzen und was Unternehmen daraus lernen können: (Schrage/ Kiron: Leading with Next-Generation Key Performance Indicators)

1. Definieren und nutzen Sie KPIs als Treiber der strategischen Veränderung.

KPIs werden von Top-Performern primär dafür eingesetzt, Erwartungen im Rahmen der digitalen Transformation zu setzen und zu steuern und nicht nur um das aktuelle Business zu managen. KPIs werden nicht als zu erreichende Zielgrößen („not just tools for hitting one’s numbers“) verstanden, sondern als Treiber der strategischen Veränderung und um Potentiale für Verbesserungen zu erkennen

2. Verstehen und Nutzen Sie Daten als Grundlage für das entdeckende Lernen neuer KPIs 

„… boiling out the KPIs from the data rather than setting the KPIs to be measured.“ Nicht die Optimierung bestehender KPIs ist für die Top Performer das primäre Ziel, vielmehr geht es darum zu lernen, was eigentlich optimiert werden muss. Auf der Basis von AI/ML können neue, für die strategische Ausrichtung des Unternehmens wichtige, Zielgrößen identifiziert und neue KPIs vorgeschlagen werden.

3. Trennen Sie sich von unnützen KPIs und bereinigen Sie den bestehenden KPI Dschungel 

„Learn what can and should be optimized.“ AI/ML ermöglicht die Identifikation von Ursache/Wirkungszusammenhängen incl. deren Quantifizierung. Auf diese Weise können bisherige (vermeintliche) Zusammenhänge und deren Treiber validiert und unnütze KPIs ggf. bereinigt werden.

4. Verstehen und nutzen Sie KPIs als Data Sets für das Machine Learning

Ein ganz wesentliches Potential von AI/ML besteht darin, kontinuierlich aus den Daten zu lernen. Dies ermöglicht Steuerungsprozesse so aufzusetzen, dass die gelernten Treiber und deren Wirkungen als Grundlage für Maßnahmen gesetzt werden und der Erfolg dieser Maßnahmen automatisiert getrackt werden kann.

5. Nutzen Sie AI/ML als Grundlage für das Verständnis tiefergehender komplexer Zusammenhänge

Heutige KPI-Systeme basieren häufig auf einfachen mathematischen Verknüpfungen (ROI/EVA Kennzahlensysteme). Selbst treiberbasierte Systeme, wie beispielsweise die Balanced Scorecard Systeme, arbeiten in der Praxis häufig mit stark vereinfachten Annahmen und reduzierten Datengrundlagen. Sozusagen nach dem Ansatz „Komplexitätsreduktion durch Weglassen“. AI/ML ermöglicht die Identifikation komplexer Zusammenhänge auf Basis unverdichteter Daten. Auf diese Weise können z.B. nicht nur direkte/indirekte Effekte identifiziert und quantifiziert werden, sondern beispielsweise auch die regionale oder kundengruppenspezifische Gültigkeit dieser Effekte.

6. Richten Sie Ihre Datenhaltung auf die Möglichkeiten AI/ML aus

Nicht nur neue Datenquellen (Breite), sondern auch die Granularität (Tiefe), d.h. der Detailgrad dieser Daten sind von entscheidender Bedeutung. Bei verdichteten Daten können wichtige Muster und ggf. ursächliche Treiber durch AI/ML nicht richtig erkannt werden. Auch die Umformung und Generierung neuer Daten aus Rohdaten (Feature Selection/Engineering) spielen eine wesentliche Rolle. KPIs als eine eigene Klasse von Data Assets können in diesem Kontext als Input für AI/ML eine zentrale Rolle spielen.

Die Chancen von AI/ML für die Unternehmenssteuerung primär liegen nicht darin, das Forecasting im Rahmen des bestehenden Geschäftsmodells zu optimieren, sondern durch AI/ML neue Zusammenhänge und Wirkungen zu verstehen, um neue Möglichkeiten und Potentiale zu erschließen.

Auch der richtige Umgang mit Daten und Analytik entwickelt sich entlang einer Lernkurve. Angesichts der empirisch zu beobachtenden zunehmenden Veränderungsgeschwindigkeit durch die Digitalisierung drängt die Zeit. Aktuell erarbeiten sich datengetriebene Unternehmen Vorteile, die nicht so leicht aufzuholen sind.